Orkantief KYRILL: Ausführliche Analyse der Wetterlage

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Zugbahn, Sturm- und Orkanfeld KYRILL in Mitteleuropa
Diese Karte stellt den Verlauf des Orkantiefs vom 18. und 19.1. vom Atlantik über Mitteleuropa hinweg nach Nordosten dar. Sie soll zeigen, wie großflächig es orkanartige Böen und Orkanböen in Mitteleuropa während der Passage des Orkantiefs gegeben hat.

Nahezu die gesamten beiden Januar-Dekaden standen unter Einfluss einer zyklonal geprägten westlichen Höhenströmung, wobei in rascher Folge zahlreiche Sturm- und Orkantiefs von Neufundland oder dem (Nord-)Atlantik in Richtung Britische Inseln und weiter nach Skandinavien zogen. JESSICA, KARLA (Tief Nr. 23), LOTTE (Tief Nr. 24), ANTON, CHRISTOPH, ERNST, DIETER, FRANZ (Tief Nr. 29), GERHARD, HANNO, IKARUS und JÜRGEN sind alle Sturm- oder Orkantiefs, die seit der Umstellung der Großwetterlage um die Jahreswende 2006/2007 bis zur Monatsmitte des Januars Mitteleuropa mit ihren Sturmfeldern betroffen haben. Das schwächste Tief war IKARUS, das lediglich an der Nordsee und auf einigen exponierten Berggipfeln für Sturmböen sorgte, im Flachland jedoch allenfalls stürmische Böen bis 65 km/h hervorrief. Die Orkantiefs KARLA und FRANZ waren hingegen nennenswerte Stürme, die in Deutschland entweder gebietsweise, wie bei KARLA oder verbreitet, wie bei FRANZ zu schwerem Sturm bis ins Flachland führte. Die genauen Informationen über diese beiden Tiefs finden Sie in den jeweiligen Übersichten (Verlinkung s.o.).

Sturmtief DIETER beeinflusste am 17. und 18.1. das Wetter in West- und Mitteleuropa mit gebietsweisen Sturmböen bis in die Tieflagen. Um 13 Uhr MEZ befand sich das Zentrum des Tiefs DIETER nördlich von Schottland. Tief KYRILL, auf das hier im Folgenden eingegangen wird, hatte sich vom 16. auf den 17. östlich von Neufundland über dem freien Atlantik zu einem Warmsektor-Sturmtief mit 982 hPa Kerndruck entwickelt. Der starke Jet-Stream mit Windgeschwindigkeiten von 150 bis 170 kn (278 bis 315 km/h) transportierte das Tief bis zur Nacht auf den 18.1. rasch ostwärts über den Atlantik. Durch den zunehmenden Temperaturgradienten zwischen der Vorder- und der Rückseite des Tiefs entwickelte es sich rasch zu einem umfangreichen Sturmtief und vertiefte sich im Zentrum auf 967 hPa. Anders als bei nahezu allen vorangehenden Sturmereignissen der Saison 2006/2007 verlagerte sich der Haupt-Strom etwas weiter nach Süden, sodass Mitteleuropa im Laufe des 18.1. mitten in das stärkste Höhenwindfeld gelangte. Die zügige Verlagerung des Tiefs wirkte sich auf die Druckfalltendenzen aus: In der Nacht des 18.1. sank der Druck in Irland und England mit bis zu 14,2 hPa in 3 Stunden. Hinter der Warmfront wurde in kräftiger Südwestströmung sehr milde Atlantikluft herangeführt. So ergaben sich signifikante Temperaturunterschiede: In Schottland betrugen die Temperaturen um 3 Uhr MEZ im Bereich der alten Kaltluft, die auf der Rückseite des Sturmtiefs DIETER gen Südosten geführt wurde, meist zwischen 3 und 0°C, in den Highlands auch bis -5°C. Im Süden Irlands, im Bereich des Kanals sowie in Nordfrankreich stieg die Temperatur im Warmsektor des Tiefs auf 12 bis 15°C an. Die Kaltfront des Tiefs DIETER verlief quer über der Mitte Deutschland und führte gebietsweise zu schauerartig verstärkten Regen und ging von Westen her alsbald in die Warmfront des neuen Sturmwirbels KYRILL über. Durch die massive Warmluftadvektion kam es in der Nacht zum 18. besonders in einigen westlichen Mittelgebirgen zu Dauerregen, der sich bis zum Morgen hin deutlich intensivierte und auf den gesamten Westen und Norden Deutschlands ausbreitete.

Um 7 Uhr befand sich das Zentum des kräftigen Sturmtiefs KYRILL mit 966 hPa über Nordirland. Bis dahin lagen die Spitzenwindböen an der Südwestküste Englands zwischen 109 und 120 km/h, bis nach Nordfrankreich traten verbreitet Sturmböen um 76 km/h auf, vereinzelt auch schwere Sturmböen von 90 bis 100 km/h. In Deutschland zog das Sturmfeld des Tiefs DIETER nach Osteuropa ab und der Wind beruhigte sich vorübergehend. Lediglich von Westen her nahm er mit Annäherung der Warmfront des Tiefs KYRILL wieder deutlicher zu mit verbreiteten Sturmböen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg von über 80 km/h. Der kräftige Dauerregen führte bis zum Morgen zu 12stündigen Regenmengen von bis zu 44 l/m² in Kirtorf-Wahlen in Hessen. Verbreitet wurden im Westen 12stündige Mengen von 11 bis 30 l/m² erreicht. Auch in Großbritannien regnete es reichlich mit verbreiteten Mengen zwischen 15 und 38 l/m². Im Laufe der Morgenstunden hatte sich das kompakte Niederschlagsgebiet der Warmfront auf die gesamte Nord- und Westhälfte Deutschlands ausgebreitet. Mit ihr wurde auch hierher die sehr milde Luft von 11 bis 13°C in Bodennähe advehiert.

KYRILL hatte sich im Laufe des Morgens zu einem Orkantief mit einem markanten und großflächigen Sturmfeld entwickelt: Bis um 10 Uhr betrugen die Spitzenwindböen in Großbritannien bis ins Flachland verbreitet zwischen 90 und 105 km/h, mit Durchzug der Kaltfront wurden in Irland sogar Orkanböen bis ins Flachland registriert. Auch in Nordfrankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg sowie in der gesamten Südwesthälfte Deutschlands konnten Windgeschwindigkeiten von 80 bis 100 km/h gemessen werden. Hinter der Kaltfront stieg der Luftdruck in Irland und Großbritannien wieder stark an mit bis zu 13,6 hPa in 3 Stunden.

In der gesamten Nordwesthälfte Deutschlands kamen bis zum Mittag des 18.1. innerhalb von 6 Stunden verbreitet Regenmengen von 11 bis 20 l/m² zusammen, in klassischen Staulagen der Mittelgebirge auch bis zu 32 l/m², wie auf dem Brocken im Harz beispielsweise oder 31 l/m² im Stau des Bergischen Landes und des Sauerlandes. Um 13 Uhr befand sich das Zentrum des Orkantiefs KYRILL mit 966 hPa über der südlichen Nordsee. Die Luftdruckunterschiede zwischen Nordfriesland (973 hPa z.B. in St. Peter-Ording) und dem Oberrhein (1015 hPa z.B. in Stühlingen) betrugen zu diesem Zeitpunkt 42 hPa! Eine solche Druckdifferenz hat es in Mitteleuropa seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Zum Vergleich: Bei Orkan VIVIAN im Februar 1990 lag die Druckdifferenz zwischen selbigen Beobachtungspunkten bei 37 hPa, bei Orkantief ANATOL Anfang Dezember 1999 bei 44 hPa und bei Orkan JEANETT im Oktober 2002 bei 41 hPa. Die Spitzenwindgeschwindigkeiten lagen im Vorfeld der Kaltfront zwischen Großbritannien, Nordfrankreich, BeNeLux, der Schweiz und weiten Teilen Deutschlands mit Ausnahme des Nordostens verbreitet bei Werten im Flachland von 90 bis 110 km/h. In den Mittelgebirgen, in den Alpen sowie an der Nordseeküste wurden verbreitet Orkanböen zwischen 120 und 150 km/h gemessen. Im Bereich der Kaltfront, die am Mittag von Großbritannien über die Nordsee bis nach Ostfriesland reichte, wurden gebietsweise Orkanböen bis ins Flachland gemessen.

Diese flächendeckende bzw. weiträumige Ausdehnung des markanten Sturmfeldes ist die Besonderheit und zugleich auch die Gefährlichkeit des Orkantiefs KYRILL. Einer Schiffsmeldung zufolge wurde um 13 Uhr über der freien Nordsee kurz vor dem deutschen Festland ein Druckfall von 14,2 hPa in 3 Stunden gemessen, im Norden Irlands stieg der Druck mit bis zu 15,1 hPa in selbigem Zeitraum an. Die milde Luft hat sich in Mitteleuropa verbreitet mit bis zu 14°C durchgesetzt. Auch im Wiener Raum reichte es bis zum Mittag für Temperaturen um 13°C. Hinter der Kaltfront erreichten die Temperaturen in Irland beispielsweise nur noch 6°C. Durch diese signifikanten Temperaturgegensätze und dem Windsprung von Südwest auf Nordwest kam es im Bereich der Kaltfront zu Turbulenzen und konvektiven Umlagerungen mit linearer Organisationsstruktur (Squall-Line). Die Geschwindigkeitsscherung des Windes mit geringer Zunahme an Atmosphärenhöhe von 0 bis 2 km war mit Werten von zum Teil über 35 kn (über 65 km/h) schier enorm bzw. extrem. Durch die linienartige Anordnung des konvektiv durchsetzten Niederschlagsgebietes bestand daher erhöhtes Tornadopotential und vor allem die Gefahr, dass der starke Höhenwind bis zum Boden durchgreifen könnte. Diversen Prognosemodellen zufolge sollten zwischen 200 und 300 m Höhe 60 bis 70 kn (111 bis 130 km/h) Windgeschwindigkeit vorherrschen, die bei vertikalem Impulstransport an der Kaltfront hätten heruntergemischt werden können.

Die Passage der Kaltfront war dementsprechend turbulent: In ihrem Bereich kam es zu Starkregen, teils zu Gewittern mit Regenmengen von bis zu 14,8 l/m² in einer Stunde, wie z.B. in Ostrhauderfehn. Bis zum Nachmittag kam es nahezu im ganzen Land verbreitet zu orkanartigen Böen bis etwa 115 km/h. Die Küsten und Berge wurden von sattem Orkan mit bis zu 187 km/h, wie auf dem Brocken im Harz betroffen. Die Temperaturen stiegen präfrontal sogar auf bis zu 15°C an, in Alb- und Alpennähe sogar auf bis zu 17°C. Der stärkste Druckanstieg wurde postfrontal in Nordirland mit bis zu 17,5 hPa in 3 Stunden festgehalten, während er am Mittag und Nachmittag im Norden und Nordosten Deutschlands noch mit 11 bis 14,5 hPa sank. Im Laufe des Nachmittages überquerte die Kaltfront mit bis zu 16,2 l/m², wie in Rinteln den Norden und Westen Deutschlands. Bei ihrem Durchgang kam es sogar gebietsweise bis ins Flachland zu Orkanböen zwischen 120 und 130 km/h, teils sogar noch darüber!

Bis um 18 Uhr MEZ wurde der größte Druckgradient zwischen Nord- und Süddeutschland sprich zwischen List/Sylt-Ellenbogen (962 hPa) und Waldshut-Tiengen (1013 hPa) mit sage und schreibe 51 hPa registriert, zwischen List/Sylt und Konstanz am Bodensee 46 hPa. Damit geht das Orkantief KYRILL als stärkstes flächendeckendes Sturm- bzw. Orkanereignis für Deutschland seit mindestens 20 Jahren in die Geschichte ein.

Die Deutsche Bahn stellte am Nachmittag gegen 17 Uhr MEZ auf Grund dieses heftigen Sturmereignisses erstmals seit ihrem Bestehen landesweit den Verkehr ein. Die Kaltfrontpassage führte im Laufe der frühen Abendstunden in der Mitte und im Osten des Landes gebietsweise zu Orkanböen bis ins Flachland: Orographische Effekte, Kanalisierungen oder einfach nur Fallböen in Schauer- und Gewitternähe führten örtlich zu Spitzenböen von über 140 km/h wie beispielsweise am Düsseldorfer Flughafen. Vor allem in der Mitte und im Osten war die Kaltfront am aktivsten mit stündlichen Niederschlagsmengen von 15 bis an die 30 l/m² wie z.B. am Berliner Wannsee. Präfrontal lagen die Temperaturen am Abend um 19 Uhr MEZ immer noch bei 14 bis 16°C, in Alpennähe bis 17°C. Hinter der Kaltfront sanken die Werte auf 8 bis 5°C ab. Zu diesem Zeitpunkt befand sich KYRILLs Zentrum mit 962 hPa über Dänemark. Hinter seiner Kaltfront gelangte die rückgeführte Okklusion samt vorderseitiger Konvergenzlinie dann im Nordwesten und Norden neuerlich für orkanartige Böen im Flachland bzw. Orkanböen an der Nordseeküste. Im Laufe des Abends kam es im ganzen Land immer wieder zu orkanartigen Böen oder zu Orkanböen.

Um 22 Uhr MEZ lagen die Temperaturen vorderseitig der Kaltfront im österreichischen Salzburg bzw. Krems durch Föhneffekte sogar bei genau 18°C. Die Wiener Stationen Hohe Warte und Mariabrunn registrierten noch 17,6°C. Hinter der aktiven Kaltfront, lagen die Temperaturen in Richtung Elbsandstein- und Zittauer Gebirge nur noch bei 3 bis 5°C auf 200 bis 300 m Höhe über dem Meeresspiegel. Mit Durchzug der rückgeführten Okklusion ließ der Wind am späten Abend dann im äußersten Norden deutlich nach. Im Flachland wurden hier kaum noch Böen über 60 km/h registriert. Im übrigen Land tobte der Orkan weiter: In Berlin-Adlershof wurde eine Spitzenbö von 146 km/h registriert. Den stärksten Druckanstieg während der gesamten West- und mitteleuropäischen Passage des Tiefs vermeldete eine Station in Dänemark mit bis zu 18,6 hPa in 3 Stunden. Bis Mitternacht des 19.1. wurden im Salzburger und Wiener Raum sogar Temperaturen von bis zu 19,9°C registriert. Mutmaßungen der Meteorologen gehen beinahe dahin, dass in einer Januar-Mitternacht noch nie 19 oder 20°C registriert wurden, wobei diese These durch nicht geführte Messreihen nicht belegt werden kann.

Auch in Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz machte sich der Orkan ab den späten Abendstunden des 18.1. sowie in der Nacht zum 19.1. bemerkbar. Einerseits wurde im österreichischen Wolfsegg ein neuer Allzeit-Böenrekord von 148 km/h an einer Flachland-Messstation erreicht; 148 km/h gegenüber Wien mit 146 km/h aus dem Winter 1946. Wendelstein (Deutschland) und Feuerkogel (Österreich) erreichten Spitzenwindböen von etwas über 200 km/h. Eine Berg-Messstation in der Schweiz erreichte sogar über 220 km/h. Zum Vergleich: Die höchste Windgeschwindigkeit, die in den letzten Jahren an einer Bergstation erreicht wurde, lag bei 272 km/h und wurde bei Orkantief LOTHAR Weihnachten 1999 auf dem Hohentwiel im Hegau gemessen. Die mit der Kaltfront korrespondierenden Niederschläge gingen in der Nacht mehr in die Fläche und führten vom Südschwarzwald über den Alpennordrand bis zum Böhmerwald zu länger andauernden und ergiebigen Regenfällen. Von Norddeutschland her setzt sich im Laufe der Nacht fortwährend Wetterberuhigung bis nach Süden durch. Orkantief KYRILL zog in der Nacht durch den weiterhin starken Jet-Stream rasch nach Osten über die Ostsee hinweg und befand sich mit 961 hPa am 19.1. um 7 Uhr MEZ bereits über dem Baltikum. Die Kaltfront KYRILLs wellte im Süden und Südwesten Deutschlands und ging in die Frontalzone des neu entstehenden Randtiefs LANCELOT (vgl. #34) über dem Atlantik über. Im Südwesten und Westen fiel daher in der Nacht und am Morgen wieder verbreitet Regen, wobei der Druckgradient im Südwesten und Süden bis weit in den Mittag und Nachmittag des 19.1. hinein markant blieb und zu Orkanböen in den Bergen führte, während im übrigen Land nur noch stürmischer Wind mit weiteren Sturmböen um 80 km/h, teils auch schweren Sturmböen um 90 km/h wehte.

Zuletzt noch ein paar Worte zur Sturmflut an der Nordseeküste: Anfänglich bestanden Befürchtungen vor einer größeren Sturmflut. Da das Orkantief eine etwas südlichere Bahn einschlug als zunächst von den Computermodellen berechnet, überdeckte das zugehörige Hauptsturmfeld die Nordsee nur für kurze Zeit. Der Sturm erfasste die Region dabei zum Niedrigwasser und das folgende Hochwasser in der Nacht zum 19.1. lief bei abflauendem Sturm nur noch etwa 1 bis 1,5 Meter höher auf als das mittlere Hochwasser. Nur an einigen Küstenabschnitten wurde die Grenze zur leichten Sturmflut von 1,5 Metern geringfügig überschritten.

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